Bericht 37. Sitzung – 3. September 2018

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  • Thema: Löschmoratorium & Akzeptierende Jugendsozialarbeit in Chemnitz
  • Zeuge Dr. Matthias Falk, Beauftragter des SMI Sachsen im UA und LfV-Abteilungsleiter
  • Zeuge Peter Bindrich, ehemaliger Leiter des Jugendclubs Piccolo in Chemnitz
  • Zeugin Frau G., ehemalige Mitarbeiterin des Jugendclubs Piccolo in Chemnitz

Ein Regierungsbeauftragter als Zeuge

Der erste Zeuge des Tages ist mit dem Untersuchungsausschuss bereits gut vertraut: Es ist der stellvertretende Beauftragte der Staatsregierung Dr. Matthias Falk. In dieser Funktion begleitet er den Untersuchungsausschuss von Anbeginn.

Falk berichtet zunächst zu seinem Werdegang: Er sei 2006 als Jurist und Kommunalrechtler ins Sächsische Staatsministerium des Innern (SMI) gekommen. Im Zuge der »Sachsensumpf«-Affäre sei er zur Fachaufsicht des Verfassungsschutz gewechselt und dort erstmals mit dem Thema Untersuchungsausschuss »in Kontakt gekommen«. Falk habe zunächst als Hilfskraft für die Regierungsbeauftragten gearbeitet und sei später selbst stellvertretender Regierungsbeauftragter im »Sachsensumpf«-UA geworden. 2012 sei er als Vertreter des Freistaates zum NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages entsandt worden. Diese Tätigkeit sei, so Falk, auch in einer Kleinen Anfrage thematisiert worden: »Da bin ich immer noch ganz stolz drauf.«

Regierungsbeauftragter und Abteilungsleiter beim Verfassungsschutz

Erst auf Nachfragen des Ausschussvorsitzenden und der stellvertretenden Ausschussvorsitzenden erklärt Falk, dass er mittlerweile beim Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Sachsen arbeite: »Vor zwei Jahren wurde ich gebeten, ins LfV zu gehen«, erklärt Falk. So einen »mit Nachdruck geäußerten Wunsch« könne er als Beamter schlecht ablehnen. Er habe im LfV die Stelle des Leiters der Abteilung 3 übernommen und ist damit für »Beschaffung, V-Personen-Führung, Spionageabwehr, Observationen, Forschung und Werbung« verantwortlich. Für die Arbeit des Untersuchungsausschusses und die parlamentarische Aufklärung ist diese Information, die hier en passant eingestreut wird, ein Affront. Der Untersuchungsausschuss hat immer wieder Schwierigkeiten, die nötigen Informationen zu bekommen, um seiner Kontrollaufgabe auch im Hinblick auf das LfV und insbesondere dessen »operative« Arbeit nachzukommen. Informationen werden zurückgehalten oder als geheim eingestuft, Aussagegenehmigungen stark eingeschränkt. Der umgekehrte Informationsweg hingegen scheint gänzlich unproblematisch: Die Ausschussarbeit, auch die nicht-öffentliche, wird dem LfV in Gänze bekannt und es ‚überwacht‘ faktisch das Aussageverhalten der eigenen Mitarbeiter/innen. Das Kontrollverhältnis wird damit nicht bloß punktuell, sondern dauerhaft auf den Kopf gestellt wird.

Löschmoratorium

Das Löschmoratorium für das LfV, erklärt Falk, habe er selbst formuliert, seine Vorgesetzten hätten es anschließend unterzeichnet. Hintergrund sei eine »Löschaktion eines Bediensteten« beim Bundesamt für Verfassungsschutz gewesen, der Akten zur Operation Rennsteig vernichtet hatte. Das habe große Aufregung ausgelöst. Der damalige Vorsitzende des Bundestagsuntersuchungsausschusses Sebastian Edathy habe in einem Schreiben vom 19. Juli 2012 auf ein Löschmoratorium für Bundesbehörden hingewiesen und die Länder gebeten, gleiches für Polizei und die Verfassungsschutz-Ämter zu veranlassen. Diese Bitte, so Falk, sei bei ihm – damals im zuständigen Fachaufsicht-Referat des SMI – am 24. Juli 2012 eingegangen. Am 3. August 2012 sei dann mit einer Weisung der SMI-Hausleitung das Löschmoratorium für das LfV erlassen worden. Am 14. August 2012 habe Falk ein Schreiben im Namen des Innenstaatssekretärs an Edathy verfasst und über die Umsetzung informiert. Außerdem sei der Datenschutzbeauftragte in Kenntnis gesetzt worden, um »gegebenenfalls« Stellung nehmen zu können.

Zuvor habe es aber bereits ab 19. Juli 2012 ein hausinternes Löschmoratorium im LfV Sachsen gegeben. Falk geht davon aus, dass das mit dem SMI-Leitung abgesprochen war.

»Enge Kontrollen eigentlich nicht möglich«

Zur Frage, wie die Umsetzung des Löschmoratoriums kontrolliert worden sei, erklärt Falk, dass das »aus meiner Sicht« in der eigenen Verantwortung des LfV lag. »Enge Kontrollen« seien eigentlich nicht möglich. Es habe keinen Anlass gegeben, »einzurücken« und »irgendwelche Kontrollen durchzuführen«, schließlich hätten die LfV-Beamten »mit großem Fleiß« die Akten bearbeitet. Aus seiner Sicht, so Falk, seien auch keine »relevanten Akten« vernichtet worden, darauf hätten die Beamten geachtet. Aktenvernichtungen habe es nur vor dem Löschmoratorium und nur im »routinierten Tagesgeschäft« gegeben. Für mögliche Verstöße gegen das Löschmoratorium seien ihm keine Anhaltspunkte bekannt geworden.

Auf Nachfrage erläutert Falk, dass er vom NSU das erste Mal im November 2011 gehört habe, im Zuge der Ereignisse von Eisenach und Zwickau. Als Fachaufsicht habe man auch »häppchenweise« die Informationen bekommen. Die Zusammenhänge hätten sich aber erst nach dem Wochenende ergeben. Falk: »Wir hatten da keinen wesentlichen Vorlauf zur Öffentlichkeit.«

Ebenfalls auf Nachfrage gab Falk seine Beteiligung im Verbotsverfahren gegen die »Nationalen Sozialisten Chemnitz« (NSC) an. Zur Frage, ob dabei Bezüge zwischen NSU und NSC berücksichtigt wurden, sagte er, vor dem Verbot »hatte man da keine Kenntnis, dass da irgendeine Art von Bezug besteht.« Das habe sich erst hinterher durch das Auffinden der NSU/NSDAP-CD ergeben. Die Aussage ist zumindest fragwürdig im Hinblick auf Eric Fröhlich, Empfänger einer NSC-Verbotsverfügung. Er soll engen Kontakt zum NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben gepflegt haben, im Jahr 2000 soll er an einem Konditionsmarsch der Weißen Bruderschaft Erzgebirge (WBE) teilgenommen haben – der Kameradschaft des verurteilten NSU-Unterstützers André Emingers.

»Machen die mich fertig?«

Die LfV-Fachaufsicht im SMI sei etwa zehn Personen groß: »Ein Leiter, drei, vier Juristen und drei, vier Sachbearbeiter.« Inwiefern die Fachaufsicht in die Prüfgruppe des LfV involviert war, könne Falk nicht sagen, denn er sei »nur Referent unter anderen.« Auf weitere Nachfrage erklärt er, dass er von der Rückstrittsabsicht des damaligen LfV-Präsidenten Reinhard Boos vorab nichts gewusst habe, er habe dies – »für mich völlig überraschend« – im Radio gehört. Falk sei zum Zeitpunkt des Amtsantritts des Nachfolgers Gordian Meyer-Plath auch nicht bekannt gewesen, dass der wiederum V-Mann-Führer von Carsten »Piatto« Szczepanski gewesen ist.

Nach etwa 50 Minuten folgt die letzte Frage: Ob Falk in seiner Funktion als LfV-Abteilungsleiter mit LfV-Zeugen über das Löschmoratorium und deren Aussage vor dem Untersuchungsausschuss gesprochen habe. Falk bestätigt, dass man über den Untersuchungsausschuss gesprochen habe. Er habe aber nicht gesagt, »zum Löschmoratorium sagst du das oder das«. Es sei in den Gesprächen um »eine atmosphärische Einschätzung« gegangen: »Machen die mich fertig?«, hätten die Mitarbeiter/innen wissen wollen, so Falk weiter. Das habe er verneint.

Peter Bindrich: Leiter des Jugendclubs Piccolo

Der zweite Zeuge ist Peter Bindrich, Diplom-Sozialpädagoge und langjähriger Leiter des städtischen Jugendclubs Piccolo im Chemnitzer Fritz-Heckert-Gebiet. Von 1993 bis 2001 war er dort tätig. Bindrich führt zu Beginn aus, dass er vom NSU »keinerlei Kenntnisse von Tätern, Untersützern oder Sympathisanten« gehabt habe, die im Zusammenhang mit den Verbrechen des NSU stünden. Auch von Maßnahmen der Sicherheitsbehörden habe er keine Kenntnis.

Im Jugendclub selbst habe es aber »eine ganze Reihe« von Jugendlichen und Erwachsenen mit »neonazistischen und neofaschistischen Ansätzen und Handlungen« gegeben, »wo ich mir vorstellen könnte, dass die die Verbindung zum NSU […] durchaus vollzogen haben könnten». Allerdings sei ihm gegenüber »nie« der Name NSU gebraucht worden, auch von Verbindungen nach Jena habe er nichts erfahren. Erst nachdem die Telefonliste aus der Garage in Jena im Zuge der Ermittlungen ab November 2011 neu ausgewertet wurde, seien Polizisten auf ihn zugekommen. Denn auf der Liste war der Jugendclub Piccolo verzeichnet. Zwei LKA- oder Staatsschutzbeamte hätten ihm hierzu eine Mappe mit etwa 40 Bildern vorgelegt. Drei der abgebildeten Personen habe er wieder erkannt, sie seien »regelmäßige Gäste des Jugendclubs« gewesen: Christoph F., Katrin D. genannt »Mappe«, und Hendrik Lasch.

»Ja, wir waren ein rechter Szeneclub«

Bindrich wird gefragt, wie er die Aussage des Chemnitzer Staatsschutzchefs bewertet, dass der Jugendclub Piccolo »ein Szenetreffpunkt« gewesen sei. Bindrich führt aus, dass man »sehr unterschiedliche Klientelgruppen« im Haus gehabt habe. Der Club sei aber von 1991 bis zur Modernisierung »1997, 1998« ein Treffpunkt der rechtsextremen Szene gewesen. Die Neonazis seien eine von mehreren Jugendclubgruppen gewesen. Es habe sich dabei um etwa zehn Personen gehandelt, »ein sehr geringer Anteil« der Jugendlichen. Weiterhin habe es die große Gruppe der Hooligans gegeben. Auch die hätten rassistische und antisemitische Überzeugungen geteilt, seien »deutlich rechts geprägt«, aber »eher an Randale« interessiert gewesen. Das seien etwa 30 bis 40 Hooligans gewesen und die hätten, so Bindrich weiter, zu »Hoonara« (HOOligansNAzisRAssisten), »den 88ern« (Chemnitz Concerts 88) und Haller-Security »dazu gehört.« Im Jugendclub hätten sie stärker – im Gegensatz zu den organisierten Neonazis – die Freizeitangebote, etwa Fußballturniere oder die AG Kraftsport, sowie die erlebnispädagogischen Angebote genutzt, etwa Fahrten an den Balaton, ins Riesengebirge oder Zelten in Baabe. Diese Angebote hätten keine politische Ausrichtung gehabt, es habe nur das Erlebnis im Mittelpunkt gestanden. Außerdem habe es auch noch 10 bis 20 »normale Jugendliche« gegeben, die eigentliche Zielgruppe der Jugendarbeit.

»Sozialfuzzies«

Die Neonazis hätten einen politischen Anspruch gehabt, von ihnen selbst seien kaum Informationen zu bekommen gewesen. Über Aktivitäten hätten sie nur selten gesprochen. Bindrich erinnert sich an ein Konzert in Schweden und ein »Treffen mit Musik« in Tschechien, die einmal thematisiert worden seien. Zu Hendrik Lasch weiß Bindrich zu berichten, dass der bei »der JN« (Jungen Nationaldemokraten, Jugendorganisation der NPD) gewesen sei. Gefragt nach dessen Antrieb, habe er auf seinen Großvater verwiesen, der »grausam in einem russischen Gulag umgekommen« sein soll. Deswegen, so habe Lasch erklärt, sei er jetzt »gegen alles Linke« und für den Nationalsozialismus. Bindrich fand die Erklärung »ehrlich«, aber »für mich schwer nachvollziehbar.« Ansonsten seien die Neonazis »eher vorsichtig uns gegenüber« gewesen, so Bindrich: Die Angestellten des Jugendclubs galten als »Sozialfuzzies«, vor denen die politischen Tätigkeiten verborgen worden wären. Zur Frage, ob im Jugendclub eine kritische Auseinandersetzung mit dem Rechtssein der Jugendlichen gesucht wurde, erklärt Bindrich: »Anfangs hatte ich das schon vor.« Es sei aber beim Versuch geblieben. Er habe den Neonazis gegenüber einmal gesagt, dass er noch gelernt habe: »Alle Menschen sind Brüder«. Das sei quittiert worden mit: »Ihr Sozialarbeiter mit euren sozialistischen Ausdrücken…«. Ein Verweis der Neonazis aus dem Jugendclub sei aber nicht möglich gewesen, denn sie waren »intelligent und geschickt«. Konkrete Straftaten seien ihm nicht bekannt gewesen, erklärt der ehemalige Jugendclubleiter.

Die Reinigungsgruppe und Haller-Security

Die »Hooligans« allerdings hätten durchaus offen von ihren Schlägereien berichtet, »das war geil für die«. Darunter seien viele Straftaten, etwa Überfälle auf Linke oder »Andersaussehende« gewesen. Sie hätten »Blood & Honour« als ihre »Heimstatt« benannt. Ebenso spielte die Security um Thomas Haller »eine wichtige Rolle«, die Hooligans seien eine Art »Reinigungsgruppe« gewesen. So erinnert sich Bindrich an einen Fall, als Haller persönlich bei einem Jugendfest des Clubs auftauchte. Er hat dann aus dem Publikum »30, 40 Leute mobilisiert«, um nach Stollberg zu fahren, weil es hieß, »beim Stadtfest würden Linke stören«. Die seien dann hingefahren »und haben dort dann aufgeräumt«, berichtet der Sozialarbeiter.

An regelmäßige Besucher von außerhalb könne er sich nicht erinnern, erklärt Bindrich auf Nachfrage. Einmal seien »30 junge Männer, schwarz gekleidet von oben bis unten« da gewesen. Die hätten ein Bier getrunken und seien dann mit mehreren Leuten aus dem Jugendclub losgezogen. Solche Szenen habe es möglicherweise »ein bis drei Mal« gegeben. Ansonsten habe es eine Zeit lang freitags eine Diskothek gegeben, da seien auch Jugendliche von außerhalb, »Freiberg oder Stollberg«, gekommen. Das habe aber keine politische Relevanz gehabt. Erinnern könne er sich auch noch an die Bezeichnung »Bayreuther SS«, hier hätten Verbindungen zu den Hooligans bestanden, er habe sie aber nie im Jugendclub wahrgenommen. Auf Nachfrage erklärt Bindrich, dass mit dem Begriff »Bunker-SS« der Jugendclub Compact gemeint gewesen sei.

»Wir haben manchmal gedacht, wir kriegen Hilfe«

Bindrich wird nach der Struktur des Jugendclubs befragt. Geöffnet sei täglich von 14 bis 22 Uhr gewesen, man sei sehr an den Bedürfnissen »der Älteren« orientiert gewesen. Außerhalb dieser Zeiten sei der Jugendclub nicht zugänglich gewesen, über Schlüssel hätten nur die Mitarbeiter verfügt. Insgesamt hätten im Club vier Festangestellte, drei ABM-Kräfte (Arbeitsbeschaffungsmaßnahme) und zwei Praktikanten gearbeitet. Dass Mitarbeiter den Club außerhalb der Öffnungszeiten genutzt haben, könne Bindrich aber nicht ausschließen: »Es gab Anzeichen dafür.« Zumindest eine ABM-Kraft habe mit »der rechtsradikalen Szene sympathisiert«. Den Namen wisse Bindrich aber nicht mehr. Es habe nur ein einziges Festnetz-Telefon »an der Bar« gegeben und das sei »eigentlich nur für Mitarbeiter« gedacht gewesen. Das Jugendliche Zugang dazu und zum Büro-Computer hatten, könne er ebenfalls nicht ausschließen.

Eine Kontaktaufnahme seitens des Verfassungsschutzes habe es nie gegeben, erklärt der ehemalige Jugendclubleiter auf Nachfrage. An einer Stadtteilrunde habe man teilgenommen, dort sei auch ein Bürgerpolizist zugegen gewesen. Sonst habe es keine Unterstützung aus der eigenen oder anderen Behörden gegeben: »Wir haben manchmal gedacht, wir kriegen Hilfe. Das war aber nicht der Fall.« Auf Leitungsebene seien die Probleme im Piccolo offenbar kein Thema gewesen. In einem AgAG-Projekt (Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt) sei lediglich über die Grenzen der akzeptierenden Arbeit gesprochen wurden. Die sei erreicht bei Rechtsverletzungen.

Bindrich erinnert sich in dem Zug an eine Episode, als in Chemnitz der von Linken benutzte Jugendclub Bauwagen von Neonazis abgebrannt wurde. »Das könnte auch als versuchter Mord gelten«, so Bindrich, weil klar war, dass dort hin und wieder auch Linke drin geschlafen hätten. Ansonsten seien die Neonazis »kein politisches Thema« gewesen. Am Anfang habe es im Jugendclub starke Probleme mit Alkohol gegeben. Sie hätten hier auch Jugendliche aus dem Club verwiesen. Sein Abteilungsleiter habe aber aufgrund von Anwohnerbeschwerden angewiesen: »Holt die wieder rein.« Bindrich schätzt ein, dass für die Mitarbeiter eine jährliche Supervision nötig gewesen wäre: »Das wurde aber nicht angeboten und auch nicht entschieden eingefordert.«

Akzeptierende Jugendarbeit hat die Rechten gestärkt

Ab 1998 habe es einen Wandel im Jugendclub gegeben. Es habe »deutliche Abwanderungen« gegeben. Der Club sei zunehmend von Spätaussiedlern genutzt worden. Das hätten die Neonazis auch angesprochen: »Wie kann es sein, dass die Russen unseren Club übernehmen?« Bindrich habe geantwortet: »Wir sind ein offener Club.« Geblieben seien die Hooligans. Die und die Spätaussiedler hätten sich zum Teil »gut ergänzt.« Auch unter den Spätaussiedlern seien Leute gewesen, die »Sieg Heil« gerufen hätten. Man habe auch die Taktik geändert: Verstöße gegen die Clubregeln wurden mit Rauswurf geahndet.

Rückblickend denkt Bindrich, dass die akzeptierende Jugendarbeit, wenn sie nicht ganz individuell angepasst sei, die Rechten eher gestärkt habe. Er denke es sei auch heute noch ein Thema, dass »sehr im Verborgenen liegt.« Rein zufällig habe er im Vorfeld der Sitzung aber einem beim AJZ Chemnitz angesiedelten Geschichtsprojekt ein Interview gegeben, das die Jugendarbeit thematisiert. Bindrich berichtet, dass er heute das Fanprojekt Chemnitz betreue. Mit Gruppierungen wie »NS Boys« und »Kaotic« könne man nicht sozialpädagogisch arbeiten. Es gäbe Leute, »die gehören in Einzeltherapie, die Klappsmühle oder hinter Gitter.« Nach gut einer Stunde endet die Befragung.

Frau G.: Von einen Tag auf den anderen im Jugendclub

Dritte und letzte Zeugin des Tages ist Frau G., die von März 1994 bis Oktober 1999 im Jugendclub Piccolo gearbeitet hat, später nochmal von 2002 bis 2003. Außerdem war sie Bewohnerin der Wolgograder Allee 76, dem dritten Versteck des NSU-Kerntrios in Chemnitz.

Im Jugendclub Piccolo sei sie für die Kinderarbeit und den »offenen Treff« zuständig gewesen. Sie sei eigentlich gelernte Erzieherin gewesen, aber im Zuge einer Kündigungswelle in den städtischen Kindergärten entlassen worden. Sie habe sich mit 114 anderen Leuten auf eine Stellenanzeige beworben und wurde ausgewählt. Warum sie genommen wurde, wisse sie nicht. Sie habe vom »einen auf den anderen Tag« im Jugendclub angefangen. Der sei ihr zum Zeitpunkt der Bewerbung nicht bekannt gewesen.

Sie berichtet, dass die Jugendclubs von den Jugendlichen selbst aufgeteilt waren. Der Jugendclub Piccolo sei für »Jugendliche mit rechter Gesinnung« und »normale Jugendliche« Anlaufpunkt gewesen. Bei den rechten Jugendlichen und jungen Erwachsenen habe es »Mitläufer« und »Organisierte« gegeben. Der Club sei sieben Tage in der Woche geöffnet gewesen, um zu verhindern, dass die Jugendlichen auf der Straße sind und es Beschwerden gibt. Bei Beginn ihrer Tätigkeit habe sie nur ABM-Kräfte als Kollegen gehabt: »Weder ich noch die Kollegen waren entsprechend ausgebildet.« Sie habe zwar die Auflage gehabt, ein Studium der Sozialpädagogik zu absolvieren; das verzögerte sich aber aufgrund überfüllter Studiengänge.

»Jeder pädagogische Ansatz ausgehebelt«

Auf Nachfrage erklärt Frau G., dass über den NSU »in meinem Beisein« nicht diskutiert worden sei. Sie habe auch Böhnhardt, Mundlos oder Zschäpe nicht im Jugendclub gesehen. Den harten Kern der »Organisierten« im Jugendclub schätzt sie auf 20 bis 25. Darüberhinaus habe es diejenigen gegeben, »die sich benutzen lassen.« Sie habe ständig versucht, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, etwa über Sportangebote. Gelungen sei das vorwiegend mit den »Mitläufern«. Die Dissonanzen und auch die Gefahren im Jugendclub-Klientel hätten sie »ständig rückgemeldet«. Das sei »aber auf wenig Gehör gestoßen.« Straftaten hätten sie »immer an die Verwaltung, zum Teil auch an die Polizei« gemeldet. Dabei ging es etwa um »Fahren unter Alkoholeinfluss, Körperverletzung und Diebstahl.« Ob die Situation im Jugendhilfeausschuss thematisiert worden sei, wisse sie nicht. Für Sachberichte sei Herr Bindrich zuständig gewesen, sie habe allenfalls zugearbeitet. Die Probleme seien darin immer »involviert« gewesen. Die Reaktionen seien überschaubar ausgefallen: Es habe ein Gespräch gegeben, »aber ansonsten war man froh, wenn es um die Einrichtung herum ruhig blieb.«

Besucht worden sei der Jugendclub von Gästen aus dem gesamten Stadtgebiet, berichtet Frau G. Bei Partys seien auch mal Leute von außerhalb gekommen. Rechte Szeneveranstaltungen hätten aber nicht stattgefunden, die Schlüsselgewalt lag allein bei den Angestellten. Es sei auch immer eine Angestellte vor Ort gewesen. Über einen »Krisenrat« im Fritz-Heckert-Gebiet, über den damals die Zeitung schrieb, weiß die Zeugin nichts. Mit dem Verfassungsschutz habe es auch keinen Kontakt gegeben. Dass der Jugendclub ein rechter Szenetreff war, hätten sie versucht zu ändern, in dem sie anderes Klientel ansprechen. Das habe aber nicht geklappt. Andere Jugendliche hätten sich »nicht hineingetraut, zum Teil wurde es von den Eltern verboten.« Grund dafür sei der schlechte Ruf gewesen. Die Versuche, die Hausordnung durchzusetzen, hätten dazugeführt, dass sich die Jugendlichen im Umfeld getroffen haben. Deswegen habe es Bürgerbeschwerden gegeben und dann die Anweisung, die Leute wieder reinzuholen. »Jeder pädagogische Ansatz wurde von den Vorgesetzten ausgehebelt, um Ruhe im Viertel zu haben.«

»Verbale und tätliche Angriffe auf meine Person«

Sie als Jugendclubangestellte hätten schon gesagt, dass das Klientel »gefährlich« ist, »das andere Jugendclubs bedroht werden.« Das sei ohne Reaktion geblieben. Deswegen habe sich unter den Jugendclubs »ein Netz« entwickelt, »um die Jugendlichen zu schützen und zu warnen.« Meist hätten sie auch die Polizei kontaktiert, die kam aber oft erst, als es zu spät war. Sie habe zwar noch Bilder im Kopf, können sich aber nur noch an wenige Namen erinnern: Hendrik Lasch und die Zwilingsbrüder mit den Spitznamen »Kicke« und »Kacke«. Organisations- oder Strukturnamen seien ihr nicht mehr erinnerlich. Prinzipiell hätten die »Organisierten« nur »wenig mit uns« gesprochen. So bald die Gespräche spezieller geworden seien, hätten sie diese abgebrochen. Bei den Freizeitfahrten habe es ihrer Erinnerung nach »meistens keine rechten Geschichten« gegeben. Auf solchen Fahrten seien die Leute »recht angepasst« gewesen und hätten »normale Gespräche« geführt.

In der Situation damals hätten sich die Angestellten »allein gelassen gefühlt.« Man habe zeitweise mit zwei Personen eine 7-Tage-Woche abdecken müssen. Das habe »massive Überstunden« verursacht und sie sei »schnell ermüdet«. Frau G. hat den Eindruck, dass man »das Problem nicht habe sehen wollen.« Ihr gegenüber habe es auch Bedrohungen gegeben, schließlich habe man »zum Teil allein gearbeitet«. Das seien »verbale, als auch tätliche Angriffe auf meine Person« gewesen, schildert die Sozialarbeiterin. Einmal hätten mehrere Jugendliche ihr Auto gestohlen und zu Schrott gefahren.

Wolgograder Alle 76: »Junge Leute in die Wohnung gehuscht«

Besserung habe es erst im Laufe der Jahre gegeben. Man habe mehr Mitarbeiter, allerdings nur ABM- oder SAM-Stellen, bekommen, um die Öffnungszeiten zu gewährleisten. Auch das Klientel habe sich verändert: Ab 1999 oder 2000 seien vorwiegend Aussiedler im Jugendclub gewesen.

Vor ein paar Jahren habe sie mit der Kriminalpolizei gesprochen, da sie auch in der Wolgograder Allee 76 gewohnt hatte, wo von April 1999 bis Mitte 2000 auch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe Unterschlupf gefunden hatten. Sie habe damals nur mitbekommen, dass es im Erdgeschoss einen Mieterwechsel gegeben habe. Sie habe auch wahrgenommen, dass »junge Leute in die Wohnung gehuscht seien«. Wer genau, wisse sie aber nicht, es habe sich um Männer gehandelt. Sie hätten nicht so ausgesehen, wie die rechten Jugendlichen im Jugendclub. An das Klingelschild könne sie sich nicht mehr erinnern. Das habe sie der Polizei berichtet, ausgehend von diesem Gespräch sei man bei den Ermittlungen dann auch auf den Jugendclub Piccolo gekommen.

 

Weiterlesen?
Weiterführende Informationen zum Akzeptierenden Ansatz der Jugendarbeit im Kontext des NSU:

Kleffner, Heike (2015): Die Leerstelle in der Fachdiskussion füllen. Sozialarbeit und der NSU-Komplex. Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ 40/2015).

Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschuss Thüringen ab S. 394ff. Kenntnisse und Bewertung sowie eingeleitete Handlungsmaßnahmen von Politik und Behörden des Freistaates Thüringen.

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